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Ehrlich streiten über Kernenergie

- Erster Teil - Von Dr. Helmut Böttiger

Die Kernenergie ist nicht unumstritten. In Leserbriefen wurden wir aufgefordert, erneut Stellung zu beziehen. Wir tun dies in einer Serie, die das Thema ganz von vorn und grundsätzlich angeht.
Mehr als eine technische Frage Die große Strompreisfrage Fortschritt braucht Redlichkeit

In sehr alten Schöpfungsmythen kommt immer wieder die gleiche Geschichte vielfältig abgewandelt vor. Der Schöpfer läßt den Menschen vor sich treten und streckt ihm in der rechten Hand einen Stein, in der linken eine Frucht entgegen. Immer wählt der Mensch im Mythos die Frucht - und damit das Leben und den physischen Tod. Mit dem Stein hätte er Sterilität und körperliche Unsterblichkeit gewählt. Die Episode spiegelt ein Stück Grundweisheit der Menschheit wider. Denn noch immer steht jeder nachdenkliche Mensch in bewußten Momenten seines Lebens vor dieser Entscheidung, nur im Routineablauf des Tages denken wir nicht daran. Jeder möchte leben, etwas erleben, scheut aber die Gefahr; er will ein Ziel unbedingt erreichen, aber wenn er es erreicht hat, soll es weiter gehen; oder er sucht Sicherheit und Geborgenheit, und erstickt dabei in Langeweile. Was hat diese Geschichte mit der Kernenergie zu tun? Sehr viel, wie wir am Ende dieser Serie hoffentlich verstehen werden.

Kernenergie war ein heiß diskutiertes Thema. Die Bundesbürger wollen inzwischen mehrheitlich aussteigen. Trotzdem will sich kaum einer damit abfinden. Nicht einmal die Rot-Grünen scheinen über den unverhofften Sieg froh zu sein. Wird das Thema Kernenergie angesprochen, kommt sogleich vehemente Ablehnung oder gereizte Gleichgültigkeit, manchmal sogar stille Wehmut auf. Wir, halten die Frage der Kernenergie für eine der grundsätzlichen Fragen, von deren Beantwortung letztendlich die Zukunft und die Zukunftswilligkeit der Menschheit abhängen.

Wenn man Grundsätzliches in Banales einwickelt und dieses dann "hinterhältig" erörtern läßt, kommt außer Geschrei oder Achselzucken meist nichts heraus. Ob mit Absicht oder aus Leichtfertigkeit, jedenfalls verlief bisher die gesamte öffentliche Diskussion um die Kernenergie in dieser verwickelten Form. Das Deutsche Atomforum wollte die Diskussion um die Kernenergie "versachlichen", hat Millionen für "Aufklärungsschriften" ausgegeben und einige Fachleute damit bemüht, mit dem Ergebnis, daß sich die Deutschen schließlich mehrheitlich gegen die Kernenergie und für den Ausstieg ausgesprochen haben. Das Atomforum fürchtete die "Unsachlichkeit", täuschte sich aber darin, was bei der Diskussion um die Kernenergie wirklich "Sache" ist.

Natürlich bringen irrationale, hysterische Debatten niemanden weiter. Und wenn man ehrlich streiten will, sollte man wissen, worum es eigentlich geht, was Sache ist. Daher wollen wir - bevor wir auf die Kernenergie als solche zu sprechen kommen und warum wir sie trotz der damit verbundenen möglichen Gefahren für einen entscheidenden Schritt der Menschheit nach vorne halten - zunächst über die Hintergründe der Kernenergiedebatte nachdenken.

Mehr als eine technische Frage

Wenn über Kernenergie im Unterschied zu anderen Energiequellen diskutiert wird, hört sich das meist an, als wäre es eine technische Frage wie die, ob man zum Besuch der Verwandtschaft lieber das Auto oder die Eisenbahn nehmen soll. Wenn man wirklich unentschlossen ist und nicht weiß, was vernünftiger ist, wägt man zwischen den Vor- und Nachteilen ab und trifft so schließlich eine Entscheidung. Aber selbst über die banale Frage: Auto oder Eisenbahn kann es, wenn mehrere an der Entscheidung beteiligt sind, zu erregten Debatten kommen - und zwar dann, wenn die Diskutanten sich ihre heimlichen Vorlieben und Abneigungen nicht eingestehen. Sie schieben dann allerlei Gründe vor, als wären sie die ausschlaggebend zwingenden, um scheinbar vernünftig das zu tun, was sie eigentlich aus vernunftferner Vorliebe, also eines Vorurteils wegen tun wollen. Wir kennen solche Scheindebatten nur allzugut. Man beißt sich fest, die Emotionen schlagen hoch, jede Seite findet, die andere müsse doch endlich ihren "Fehler" einsehen, was diese jedoch nicht tut.

Kommt die uneingestandene Voreinstellung nicht zur Sprache, bleibt die Vernunft auf der Strecke und die Diskussion endet in Schreierei oder kopfschüttelndem Ärger - es sei denn, jemand sorgt endlich mit einem Witz für befreiendes Gelächter. Dann wundert man sich gemeinsam, wie man sich über eine so banale Sache so heißreden konnte, und wendet sich wichtigeren Dingen zu. Die Sache selbst erscheint nur noch als banal; das, worum es eigentlich gegangen war, bleibt verborgen. Offensichtlich war etwas eingewickelt, das so zu Herzen geht, daß es die Emotionen anfeuerte. Und dies ist es, was beide Seiten - bewußt oder unbewußt - hindert, sich und anderen das heimliche Vorurteil einzugestehen.

Was aber wäre so hintergründig an der Kernenergie?

Was hintergründig ist, wird nicht leicht wahrgenommen. Wenn man sich etwas nicht erklären kann, dies aber will, wird oft geraten und unterstellt. Kernkraftbefürworter werden schnell mit dem Spruch abgetan: Die werden doch von der "Atomlobby" bezahlt. Den Kernkraftgegnern wird meist Irrationalität vorgeworfen und dafür religiöse, ideologische, archetypische Ursachen angeführt. Dabei könnten die Verfechter der Kernenergie bei ihren Gegnern ebensogut sachfremde materielle Interessen ins Feld führen.

Die große Strompreisfrage

Die eine Seite argumentiert also: Die "Atomlobby" will viel und günstig Strom verkaufen. Günstig hieße: zu niedrigen Gestehungskosten und hohen Preisen. Wenn das mit "Atomstrom" möglich ist, wird sie dafür Marketing machen. Eine Form des Marketing könnte sein, Befürworter anzuwerben. Das Deutsche Atomforum ist eine teure, offizielle Lobby der Stromversorgungswirtschaft. Warum sollte es daneben nicht auch eine verdeckte, inoffizielle geben? Auszuschließen ist das nicht. Tatsächlich kommt es rein marktwirtschaftlich denkenden, privatisierten Stromlieferanten ausschließlich auf den Unterschied zwischen Gestehungskosten und Preis an. Wenn nur der Unterschied groß genug ist, kommt es auf die Höhe der Herstellungskosten, solange sie für alle Anbieter gleich hoch sind, nicht so sehr an.
Und hier kommen die Kernkraftgegner ins Spiel. Das herrschende Wirtschaftsdogma lehrt einen zwingenden Zusammenhang zwischen Angebot und Nachfrage, so daß gelten soll: Verknappt man das Angebot, steigen die Preise. Der Erzeuger kann zwar weniger absetzen, bekommt aber seinen verringerten Aufwand deutlich besser bezahlt. Als zusätzlichen Vorteil kann er anstehende Ersatz- und Neuinvestitionen einsparen (und das Ersparte gegebenenfalls an der Börse verspielen).

Besonders der letztgenannte Effekt wird über steigende Energiekosten in alle gewerblichen Bereiche ausgefächert. Energiekosten fallen auf allen Stufen der Güterproduktion an, und sie addieren sich aus allen Vorprodukten, Werkzeugen, den Transporten usw. auf. Hohe Energiekosten verteuern die Herstellung von Gütern unverhältnismäßig stark, werfen weniger produktive Firmen aus dem Markt, machen weniger Neuinvestitionen nötig und senken drastisch das Güterangebot als Voraussetzung für höhere Preise. Die vorhandene zahlungsfähige Nachfrage muß sich mit weniger Gegenleistungen zufrieden geben.

Was also könnte den Stromverkäufern willkommener sein als ein Chor von Menschen, die höhere Energiekosten zur Drosselung der Energiebereitstellung fordern? Was könnte ihr in diesem Zusammenhang mehr in den Kram passen als die Propaganda von Energieerzeugungstechniken, die aus sich heraus hohe Energiepreise rechtfertigen und von deren Konkurrenz daher keine ernsthafte Gefahr ausgeht. Es ist also auch nicht auszuschließen, daß Kernkraftgegner, wenn sie den Befürwortern vorwerfen, von der "Industrie" bezahlt zu werden, von sich auf andere schließen. Daß der vereinigte Chor der Medien so beharrlich auf Seiten der Kernkraftgegner erklingt, unterstreicht diese These.

Fortschritt braucht Redlichkeit

Hingegen werfen auch die Kernkraftgegner den Befürwortern irrationale ideologische Vorstellungen vor, wenn sie von Fortschritts- und Technikgläubigkeit reden. Die Befürworter seien deshalb Gläubige, weil sie dabei den Preis des Fortschritts außer acht lassen. Und habe der Fortschritt im letzten Jahrhundert nicht gezeigt, wie verhängnisvoll er sei, mit wieviel menschlichem Unglück er erkauft werden mußte?

Gerät die Diskussion an diesen Punkt, läßt sie sich kaum weiterführen. Offensichtlich ist beides richtig: Der technische, vor allem der energietechnische Fortschritt hat dem Menschen kaum zu ermessenden Segen gebracht, aber er brachte in seiner Begleitung nicht zu bestreitendes menschliches Unglück mit, einen nicht zu übersehenden kulturellen und moralischen Verfall. Doch lag dieses Unglück wirklich am technischen Fortschritt und nicht vielmehr an den Methoden und Formen seiner An- und Zueignung? Sogenannte Umweltschützer stellen einen kausalen Zusammenhang zwischen den materiellen Segnungen und dem wachsenden Unglück her und wollen nicht sehen, daß zwischen beidem viel schlechte Politik für zweifelhafte Interessen wirkt. Das berührt ein Gebiet, aus dem sich normale Kernkraftbefürworter wie ihre Gegner heraushalten wollen.
Wenn sich also in diesen Fragen der "sachliche" Zusammenhang nicht leicht entdecken läßt, könnte ein Blick auf die existentielle Wahrhaftigkeit weiterhelfen, das heißt die Frage, welche praktischen Konsequenzen der einzelne für sich und seine Lebensweise aus der bezogenen Position zieht. Auf wieviel Segnungen des technischen Fortschritts verzichtet der Kernkraftkritiker tatsächlich um des eigenen und anderer Menschen Glückes willen?
Im Fall der anderen Seite müßte die gleiche Frage lauten: Wie sehr bemüht sich der Kernkraftbefürworter darum, daß der von ihm befürwortete Fortschritt nicht nur ihm selbst und seinem unmittelbaren materiellen Einkommen Vorteile bringt, sondern anderen Menschen und tatsächlich der Menschheit zugute kommt, ohne daß politisch interessierte Kreise die Segnungen ausschließlich für sich selbst beschlagnahmen?

Solange die Diskussion über die Kernenergie die verborgenen Vorurteile und Ängste umschifft und ganz "sachlich" geführt wird, ohne daß klar wird, was eigentlich Sache ist, dann ist sichergestellt, daß nichts dabei herauskommt und interessierte Kreise hinter den Kulissen treiben können, was sie wollen. Erst wenn wir uns eingestehen, daß es uns in der Frage der Kernenergie um mehr geht als "nur" um eine Energiequelle und daß hinter den Ängsten und Einwänden gegen sie anderes stecken könnte als technische Risiken - dann ist es sinnvoll, in die Debatte einzusteigen.

Als erstes wollen wir die Kernkraft als Energiequelle für den Menschen betrachten.

Teil1 Ehrlich streiten über Kernenergie
Teil2 Quellen der Energie
Teil3 Was geschieht eigentlich im Kernreaktor?
Teil4 Warum der "GAU" beherrschbar ist
Teil5 Wann ist Radioaktivität gefährlich?
Teil6 Das sogenannte Abfall-Problem
Teil7 Transmutation
Teil8 Der Öko-Reaktor
Teil9 Ist der Ausstieg aus der Kernenergie moralisch vertretbar?


Name: Dr. Helmut Bttiger
Email:boettigerdrh@web.de
Dieser Beitrag darf nur Mitzustimmung des Autors verndert w werden. 

2/2007

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